Im letzten Forum Alpinum wurde von einem Leser über die selbst erlebte Retinablutung am Khan-Tengri (Tien-Shan) berichtet. Die medizinischen Hintergründe sollen nachfolgend kurz dargelegt werden.
Definition
HARH sind flächenartige Netzhautblutungen, die infolge des erniedrigten O2-Partialdruckes in extremen Höhen (oberhalb 5000 m) und des damit erhöhten cerebralen und retinalen Blutflusses auftreten. Ungewohnte Spitzendrucke in den Retinagefässen bei Anstrengung, wie Pressatmung oder Höhenreizhusten (Valsalva-Manöver), können als Auslöser fungieren. Diese Netzhautblutungen treten bei 50% aller Bergsteiger auf und verursachen selten grössere Probleme. Sie können daher auch unbemerkt bleiben. Ab und zu führen sie zu Gesichtsfeldausfällen (Skotome), welche aber auch eine gute Prognose haben.
Pathophysiologie
Die Netzhaut des Auges (Retina) ist eine becherförmige Ausstülpung des Zwischenhirns und somit ein Teil des Gehirns. Infolgedessen ist der Nervus opticus kein peripherer Nerv im eigentlichen Sinne, sondern ein intracerebraler Trakt. Die Veränderungen, welche für den cerebralen Blutkreislauf bei Höhenexposition gelten, sind entsprechend auch an der Retina anzutreffen.
Mikroskopisch ist die Retina die innerste von drei zwiebelschalenartig übereinander liegenden Augapfelschichten. Sie besteht aus insgesamt 10 differenzierbaren Lagen, wird entsprechend ihrer Funktion jedoch nur in 2 Teile untergliedert: eine gefässlose äussere und eine gefässführende innere Retina. Die äussere Retina besteht aus dem Neuroepithel (Stäbchen und Zapfen) und dient der Aufnahme der Lichtreize. Die innere Retina wird von den Gefässästen der Zentralarterie (A. centralis retinae) ernährt und dient der Verschaltung und Weiterleitung des durch den Lichtreiz erzeugten Erregungsimpulses.
Die Netzhautarterien und –Venen der inneren Retina sind bei einer Augenhintergrundspiegelung (Ophthalmoskopie) gut an ihrer hell- und dunkelroten Farbe und einem glänzendem Reflexstreifen zu erkennen (Abb. oben). Die Stelle des schärfsten Sehens, der gelbe Fleck, enthält keine Gefässe.
Hypoxie in extremen Höhen führt über Autoregulationsmechanismen zu einem erhöhten retinalen Blutfluss- und Volumen. ValsalvaManöver steigern über die Erhöhung des intrathorakalen Druckes und dem daraus resultierenden venösen Rückstau noch den Druck des bereits hypoxisch vorgeschädigten Kapillarbettes der Retina. Dies führt zu punkt- bis flächenförmigen Blutungen.
Die bedrohliche Situation erklärt sich aus der Tatsache, dass gleiche Veränderungen wie an der Retina auch an den Gefässen des übrigen Gehirns stattfinden können. Multiple kleine cerebrale Blutungen sind also nicht nur beim voll ausgebildeten Höhenhirnödem (HACE) zu finden. Retinablutungen gelten daher als Warnsignal für ein mögliches HACE.
Symptome
Plötzliche schmerzfreie Skotome: „Blinde“ Flecken im Blickfeld des Patienten, die jedoch meist in der Peripherie auftreten (Zone der Stäbchen). Bei genauerem Hinsehen, also Zentrierung des vorher nicht gesehen Punktes, rückt dieser in die Mitte der Retina (Zone der Zäpfchen) und wird damit scharf gesehen.
Visusabnahme bei Dämmerung: Bei schlechten Lichtverhältnissen übernehmen die Stäbchen der Peripherie vermehrt das Dämmerungssehen. Daher ist der Visusverlust bei den mehrheitlich peripher gelegenen Blutungen besonders bei Dämmerung auffällig.
Unscharfes Sehen: Es kommt zu Verwischungen von betrachteten Gegenständen.
Eindruck einer starken Sonnenlichtblendung
Schmutzflecken auf der Brille, die beim Absetzten jedoch nicht verschwinden.
Diagnostik
Die Diagnostik ergibt sich aus den klassischen Symptomen von fleckförmigen Gesichtsfeldausfällen in grossen und extremen Höhen. Die Hämorrhagien können mittels Ophthalmoskopie als kleine rote Flächen auf der Retina verifiziert werden (Abb. oben). Die Arteriolen und Venolen erscheinen geschlängelt und dilatiert. Die Papille (Eintrittsort des Sehnerven, blinder Fleck) ist ödematös aufgetrieben. Die Stelle des schärfsten Sehens (gelber Fleck) ist aufgrund ihrer Gefässarmut von den Hämorrhagien weitgehend ausgespart. Die Patienten haben daher nur wenige Beschwerden, sofern nicht ausgedehnte Blutungen auftreten.
Differenzialdiagnostik
Besonders bei jungen Männern können Glaskörperblutungen vorkommen, die wegen der nachfolgend auftretenden Narbenstränge prognostisch jedoch weitaus ungünstiger sind. Klinisch können sie zunächst ähnlich imponieren wie Retinablutungen.
Retinablutungen anderer Ursache treten bei Traumata des Augapfels, Entzündung oder Perivaskulitis der Retina auf.
Retinopathien bei Hypertonie und Diabetes mellitus mit Exsudationen, Mikroaneurysmen und fleckförmigen Blutungen haben meistens eine längere Krankheitsvorgeschichte. Typisch für diese Netzhauterkrankung sind neben den Gefässschlängelungen auch Lipideinlagerungen und ischämische Infarkte.
Komplikationen
Bei Hämorrhagien grösserer Netzhautgefässe können akute retinale arterielle oder venöse Zirkulationsstörungen resultieren. Wenn die Blutungen abheilen, können in der Folge narbiger Einziehungen Netzhaut-GlaskörperStrangbildungen entstehen.
Es sei hier nochmals auf die hohe Korrelation zum HACE hingewiesen. Auch beim Vorliegen eines Höhenlungenödems (HAPE) ist die HARH häufiger.
Therapie
Sauerstoffapplikation und/oder Abstieg sind die beste Akuttherapie. HARH ist innerhalb von Wochen nach Rückkehr aus der Höhe reversibel. Es können jedoch permanente Gesichtsfeldausfälle nachgewiesen werden, ohne dass der Patient es bemerkt. Hochdosierte Vitamin C‑Therapie soll eine Protektion der Gefässwände bewirken.
Die beste Prävention ist eine ausreichende Akklimatisation und ein langsamer Anstieg.
Nur bei grösseren rezidivierenden Blutungen kommt eventuell eine Laserkoagulation in Frage.