Die Expeditionsvorbereitungen und unser Team
Im August 1999 bestieg ich meinen ersten Siebentausender. Ich hatte vorher über lange Jahre Erfahrung im hochalpinen Bereich gesammelt, war auf Vulkanen in Kamtschatka unterwegs, war im nördlichen Tien-Shan (Transili-Alatau) bis auf über 5000 m gestiegen und auch oft in den näher gelegenen Alpen unterwegs. Die verschiedenen Anpassungsprobleme des Körpers an die extremen Höhen waren mir im Großen Ganzen bekannt und ich hielt mich – insbesondere was Lungen- und Hirnödeme betrifft – für durchschnittlich gefährdet. Beobachtet hatte ich bis dato leichte periphere Ödeme und Kopfschmerz, natürlich auch das vorzeitige Eintreten körperlicher Erschöpfung.So stand eine sorgfältige Akklimatisierung im Zentrum der Vorbereitungen bei der geplanten Besteigung des Khan-Tengri (7010 m) im zentralasiatischen Tien-Shan. Khan-Tengri bedeutet, übersetzt aus dem kirgisischen, etwa: Herrscher des Himmels. Eine durchaus treffende Bezeichnung. Betrachtet man den Gipfelaufbau von westlicher Richtung, stellt sich der Berg als imposante und ebenmäßig proportionierte Pyramide dar (Abb. oben). Er ist sicher einer der schönsten Berge der Welt. Als sich der Pelzhändler und famose Entdecker Gottfried Merzbacher (1843 – 1926) Anfang des letzten Jahrhunderts dem zentralen Tien-Shan von Norden her näherte, vermutete er im Khan-Tengri den höchsten Berg dieses Gebirges. Und tatsächlich nimmt sich der katzbucklige Pik Pobeda obschon er noch reichlich 400 Meter höher ist, optisch eher bescheiden aus. Im September 1931 wurde der Khan-Tengri erstmals bestiegen (Leitung M. Pogrbetsky). Der Weg dieser sowjetischen Expedition über den Westkamm stellt auch heute noch die Normalroute für eine Besteigung dar. Aus alpinistischer Sicht beschränkt sich die besondere Herausforderung jedoch auf das logistische und konditionelle (weniger auf das technische) Können der Bergsteiger. Wir fanden die schwierigeren Stellen über Längen mit Fixseilen versehen. Zwar sind jene häufig in keinem vertrauenerweckenden Zustand – gleichwohl eine entscheidende Stütze: sowohl was das Klettern im kombinierten Gelände angeht als auch wegen der Zeitersparnis beim Bau eigener Sicherungen. So ist schließlich eine Besteigung unter den gegenwärtigen Bedingungen in keiner Weise mit den Strapazen jener vor 70 Jahren zu vergleichen. Während die mitunter tödlichen Unglücke der frühen Besteigungen (Lorenz Saladin) sich durch Erfrierungen in diesem nördlich-kalten Gebiet erklären, gehen sie heute häufiger auf Spaltenstürze, Eisbruch und Lawinenabgänge, aber auch auf unzureichende Höhenadaption und folglich Höhenkrankheit zurück.
Um diese Gefahr zu minimieren, unternahm ich noch unmittelbar vor der Abreise einen ausgiebigen Material-Check in den Berner Alpen. Zusammen mit einer DAV-Sektion bestieg ich das Doldenhorn (3643 m) und hielt mich dann noch einige Tage rund um die Blümlisalp auf. Bei nächtlichen Übernachtungen unter freiem Himmel, suchte ich das Wärmevermögen meiner Daunenkombination in Verbindung mit dem Gore-Tex Biwaksack zu testen und tagsüber bei langen Touren Tauglichkeit und Behaglichkeit der Plastik-Schalen-Bergstiefel auf Herz und Nieren zu untersuchen. Aber neben dieser Materialprüfung schien mir die frühzeitige Exposition in Höhen weit über 2000 m von besonderem Vorteil.Unmittelbar nach meiner Rückkehr ins heimatliche Berlin brach unsere Expedition via St. Petersburg in die kasachische Metropole Almaty auf. Unser Team bestand aus zehn deutschen Bergsteigern. Wir wurden bei der Organisation von kasachischen Freunden unterstützt. Weder haben wir also eines der üblichen Komplett-Programme der kommerziellen Anbieter gebucht, noch alles auf eigene Faust unternommen. Die Unterstützung durch unsere kasachischen Partner beschränkte sich auf die Beschaffung der notwendigen Genehmigungen für die Besteigung, die Organisation des Helikopter-Transfers ins Basecamp und schließlich eine aus meiner Sicht wertvolle und vorzügliche Betreuung durch eine Köchin im Basecamp.
Die Akklimatisationstour
Wir unternahmen gleich nach unserer Ankunft in Kasachstan die notwendigen Einkäufe und brachen dann zur gemeinsamen Akklimatisationstour ins nördliche Tien-Shan auf. Das nördliche Tien-Shan oder auch Trans-Ili-Alatau liegt – von Almaty, also dem südöstlichen Ende Kasachstans gesehen – im Vorland des zentralen Tien-Shan. Letzteres ist ein gewaltiger Gebirgszug, der zu den ganz großen seiner Art zu rechnen ist, merkwürdigerweise aber weniger populär ist als zum Beispiel Pamir oder Himalaja. Der höchste Berg (Pik Pobeda) erreicht 7439 m, der zweithöchste, nördlich davon, 7010 m: der Khan-Tengri, das Ziel unserer Bergfahrt. Durch die – verglichen mit den anderen Gebirgsketten auf dem eurasischen Land – nördliche Lage, zeigen diese Höhenzüge eine besonders starke Gletscherbildung, mit den gewaltigsten Eismassen zwischen Khan-Tengri und Pik Pobeda. Dieser südliche Inyltchek-Gletscher ist 57 km lang und von seiner Anlage her wohl nur mit den großen Gletschern des Karakorum vergleichbar.
Weniger gigantisch, aber gewiß den Westalpen ebenbürtig, gestaltet sich der kleine Bruder des zentralen, das nördliche Tien-Shan. Damit ist es für eine erste Gewöhnungsphase an die Höhe wie geschaffen. Wir durchquerten den Gebirgszug von Nord nach Süd, wofür wir in etwa eine Woche benötigten. Wir verbrachten mehrere Nächte über der Marke von 3000 m, stiegen auf Gipfel, die über 4000 m lagen und querten reißende Flüsse, so daß uns nicht nur vor Kälte sprichwörtlich das Blut in den Adern gefror. Daß der Körper sich mit diesen Höhen nicht leicht tat, spürte ich sowohl an der eingeschränkten Leistungsfähigkeit, als auch an vorübergehendem leichten Kopfschmerz. Schließlich erreichten wir den Issyk-Kul, mit 182 Kilometern Länge (6’332 Quadratkilometer) einen der größten Bergseen der Welt. Auf einem kleinen Campingplatz gönnten wir uns nach dem gelungenen Trekking einen Tag Entspannung und komplettierten auf dem lokalen Markt unseren Expeditionsbedarf vor allem an frischem Gemüse und Obst.
Die Etappen der Besteigung
Am Ostende des Issyk-Kul liegt die letzte Stadt am Fuß der mächtigen Landverwerfungen, das geschäftige Karakol (zu Sowjetzeiten Prshewalsk). Mit einem geländegängigen LKW überbrücken wir von hier aus die letzten fahrbaren Kilometer bis zur Alpinbasis Bajankol. Früher eine Bergbauregion, prägen jetzt verlassene Fabrik- und Wohnheimsiedlungen das Bild. Von Bajankol sind es nur wenige Flugminuten mit dem Helikopter bis wir die Gletscherzunge des Inylchek erreichen. Nach weiteren 15 min. landen wir nahe der vielen internationalen Lagern an der Vereinigung von Inylchek und Sternchen-Gletscher, da wo auch wir unser Basecamp aufschlagen werden (reichlich 4000 m).
Von hier aus trennen uns zwei Vorstöße von der Erstürmung des Khan-Tengri. In einem ersten Angriff wollen wir Ausrüstung bis auf etwa 6000 m bringen, auf die wir in dem folgenden entscheidenden Gipfelsturm zurückgreifen können. Diese auch als russische Taktik bezeichnete Methode, mit immer weiter vorgeschobenen Lagern, hat den Vorteil, daß man sich schon während der ohnehin notwendigen Materialverbringung weiter an die Höhenexposition anpaßt. Leider muß man immer die gleichen Wege zurücklegen. Das Höhendiagramm verdeutlicht schematisch unsere peu à peu Akklimatisierungstaktik.
Die Netzhautblutung
Zum ersten Vorstoß auf das 6000 m hohe Schneehöhlen-Lager brechen wir am frühen Nachmittag auf, gehen aber nur eine kurze Etappe bis gegen Abend. Unmittelbar vor einem eisbruchund lawinengefährdeten Couloir übernachten wir und setzen den Aufstieg dann mitten in der Nacht fort. Mit der nächtlichen Begehung des von Lawinen bedrohten und spaltenzerfurchten Gletschers minimieren wir sowohl das Risiko verschüttet oder erschlagen zu werden, als auch in eine der firnbedeckten Gletscherspalten einzubrechen. Man kann hier fast täglich Lawinenabgänge an der weit über tausend Meter hohen Südwand des Pik Tschapajew beobachten. Der nun folgende ununterbrochene Aufstieg von anderthalbtausend Metern in dieser Höhe fordert jeden in unserer Seilschaft bis an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit. Am späten Vormittag erreicht uns die Sonne und die eisige Kälte wird durch ungewohnte und extreme Strahlungswärme abgelöst. Ich laufe auf Hochtouren. Mein Puls geht schnell, ich keuche und schwitze. Das Tempo in unserer Seilschaft liegt über dem, was ich selber wählen würde. Am frühen Nachmittag erreichen wir das Hochlager auf knapp 6000 m. Wie alle bin ich benommen und suche nach Erholung, was in dieser schattenkalten Umwelt schwer fällt. Einige der Kameraden ziehen sich mit ihren Daunenschlafsäcken in die Schneehöhlen zurück; ich liege mit leichtem Stoff bedeckt in der Sonne.
In meinem Gesichtsfeld entdecke ich einen blinden Fleck, den ich als Schmutz auf der stark getönten Gletscherbrille deute.
Wir schmelzen Schnee und nehmen viel Flüssigkeit zu uns, den medizinischen Empfehlungen zur Vorbeugung von akuter Höhenkrankheit folgend. Auch nehme ich in diesen Tagen täglich eine Aspirin-Tablette ein; eher aus prophylaktischen Gründen, denn viel seltener als bei der Akklimatisationstour durch das nördliche TienShan stellt sich Kopfschmerz ein, der mich dann zur Einnahme einer weiteren Aspirin veranlaßt. Als nach neun Uhr abends die Sonne hinter den Bergkämmen verschwindet, legen wir uns schlafen. Bei klarem Himmel verbringe ich die Nacht im Biwaksack vor den engen Schneehöhlen im Freien. Ich bemerke, daß der blinde Fleck im rechten Auge nicht auf ein verschmutztes Sonnenschutzglas zurückzuführen war, sondern andauert. Er ähnelt dem Phänomen, das ein direkter Blick in eine helle Lichtquelle hervorruft, wenn man den Blick danach wieder in dunklere Bereiche wendet. Ich bin zu erschöpft, um mir weitere Sorgen zu machen und schlafe sofort ein.
Am Folgetag kehren wir – wiederum wegen der Lawinengefahr recht früh – auf den Inylchek Gletscher zurück. Im Basecamp bietet sich für mich nun das erste Mal die Gelegenheit, meine Augenerkrankung zu untersuchen: ein blinder Fleck, der mit dem Fokus mitwandert und den genauen Blick auf das anvisierte Zentrum verstellt, länglich und dunkel. Am meisten stört er bei den Tagebuchaufzeichnungen, er wandert in der geschriebenen Zeile immer mit. Als Laie, der ich von Netzhautblutungen nie gehört habe, führe ich die Störung auf das Licht zurück. Wissend, daß ich einen Augenarztbesuch frühestens in zwei Wochen machen kann, resigniere ich und konzentriere meine Anstrengungen auf den Gipfel.
Eine knappe Woche später, im geplanten zweiten Anlauf unserer um die Hälfte geschrumpften Mannschaft, schaffen mein Kamerad Axel Pfefferkorn und ich die Besteigung des Khan-Tengri-Gipfels. Es ist der 27. August und wir sind wohl für 1999 die Jahresletzten auf dem Berg. (Nach unserer Rückkehr auf den Inylchek finden wir alle Basecamps verlassen vor.) Der zweite Aufstieg ins Hochlager war weit weniger auspowernd für mich und auch schneller als der erste. Weitere (sichtbare) blinde Flecken haben sich nicht eingestellt. An den Gipfeltag, die Etappe vom 6000 m hohen Hochlager auf den Gipfel und zurück, erinnere ich mich eher als zeitlich besonders lang, weniger als eine solche Verausgabung wie die erste Hochlagerersteigung.
Die Rekonvaleszenz
Eine Woche nach dem Gipfelsieg kehren wir nach Berlin zurück. Gleich am Folgetag der Rückankunft besuche ich meine Augenärztin und lasse die nur wenig veränderten blinden Flecken begutachten. Sie haben mittlerweile ein bißchen an Intensität verloren und sich im Sehfeld leicht nach oben bewegt. Die Ophthalmologin klärt mich über die Ursache meiner Beschwerden auf und hat zur zweiten Untersuchung auch einen passenden wissenschaftlichen Artikel parat. Ich unternahm weitere Recherchen und fand heraus, daß Experten glauben, die höhenbedingte Netzhautblutung (High Altitude Retinal Haemorrhage, HARH) sei bei bis zu 50 % der Bergsteiger, die sich in vergleichbare Höhen vorwagen, mit von der Partie. Jedoch würde es lediglich ein Bruchteil bemerken, da die Blutung häufiger außerhalb der Stelle des schärfsten Sehens, der Macula, auftritt. Damit ist sie für den Betroffenen praktisch nicht wahrnehmbar.
Meine Beschwerden klangen rasch ab. Nach nur zwei weiteren Wochen mußte ich mich schon auf das Phänomen konzentrieren, um es wahrzunehmen. Nach einem Monat war ich praktisch ohne jede Beschwerde. Die Blutgerinnsel hatten sich zum einen von der Macula weg bewegt und waren insofern weniger störend. Zum anderen hatten sie sich zurückgebildet – was die Photos der Netzhaut anschaulich dokumentieren (Abb. unten). Heute, nach mehreren Jahren, und erneuten erfolgreichen Besteigungen von 7000er Gipfeln, kann ich mit Mühe einen Rest der Blutung im linken Auge erkennen. Ich betrachte es als eine Art bleibendes Souvenir meiner Erfahrung mit Höhen, jenseits derer, an die wir Menschen uns seit Jahrtausenden angepaßt haben.
Anmerkung zu den Fundusspiegelungen
Die Photos wurden im Rahmen der Untersuchungen an der Augenklinik des Universitätsklinikums Benjamin Franklin der Freien Universität Berlin aufgenommen.
Im linken Auge hatte ich die HARH erst später entdeckt – ähnlich denen im rechten Auge hatten sie ihre Lage verändert; nur umgekehrt zur Stelle des schärfsten Sehens hin.