Anmerkung der Redaktion
Im letzten Monat erreichte uns per E‑Mail wieder ein höchst interressanter und farbiger Erlebnisbericht des Kollegen Phillipp Lang. Wie bereits in den vergangenen Ausgaben des Forum Alpinum stellen wir solche bergmedizinisch relevanten Erfahrungen sehr gern vor, um unsere Leser einzuladen, an der Diskussion teilzunehmen
Erfahrungsbericht
Am 22. April 2004 hat ein ausserordentlich fitter und bergerfahrener 68-jähriger Berggänger namens P. den 5642 m hohen Elbrus in knapp 9 Stunden (1900 m Höhendifferenz) bestiegen. Während den letzten Metern im Aufstieg sind den Bergkameraden Erschöpfungsanzeichen verbunden mit einem “unkoordiniertem Gang“ aufgefallen. Der Arzt traf auf den vom Gipfel absteigenden P. auf einer Höhe von 5580 m. Es herrschten stürmische Winde und dichtes Schneetreiben. P. war desorientiert, verkannte die Kälte (wollte sich trotz Erfrierungsanzeichen an Nase und Wange nicht entsprechend schützen) und beklagte Schwindel. Kopfschmerz1 und Nausea wurden verneint, ebenso Erbrechen.
Der Arzt riet zu schnellem Abstieg und verabreichte etwas Traubenzucker. P. wurde vom Bergführer ans kurze Seil genommen, stolperte und stürzte aber immer häufiger. Unter der Arbeitshypothese der cerebralen Mitbeteiligung bei AMS wurde pragmatisch 50 mg Prednison per os mit gesüsstem Tee verabreicht. Eine unmittelbar positive Wirkung allerdings konnte nicht beobachtet werden: Der Patient musste schliesslich von zwei Bergkameraden gestützt und vom Bergführer gezogen regelrecht den Berg hinunter befördert werden. Die Gehstrecken verkürzten sich zusehends. Auf einer Höhe von 4800m konnte P. nicht mehr laufen. Noch immer bestanden keine Kopfschmerzen, hingegen heftiger Schwindel und eine unüberwindliche Schwäche. Zudem war eine zeitliche und örtliche Desorientierung und eine ausgeprägte Falltendenz offensichtlich. Die transkutan bestimmte Sauerstoffsättigung betrug 79% bei einem regelmässigen Puls von 104/min. Es bestanden eindrückliche Periorbitalödeme beidseits, die allerdings bereits vor dem Aufstieg existierten. Fokal neurologische Ausfälle waren keine vorhanden. Bei garstigen Wetterbedingungen misslang die intravenöse Applikation von Steroiden, sodass 8mg Dexamethason intramuskulär gespritzt wurde. Ein Pistenfahrzeug wurde so hoch wie möglich an den Berg bestellt, in der Absicht, den Patienten so schonend und schnell wie möglich vom Berg zu bringen.
Kurze Zeit nach Applikation der Steroide wurde P. adäquat, die Gehfähigkeit besserte sich deutlich. Auf einer Höhe von 4100m schliesslich bestand P. darauf, mit den Skis selbständig talwärts zu fahren (das zuvor bestellte Pistenfahrzeug wurde, wohl wegen fehlenden finanziellen Vorauszahlungen, am Berg nicht gesehen). Rückblickend berichtete P. über eine weitgehende Amnesie von über einer Stunde, nämlich von unterhalb des Gipfels bis kurz nach Applikation des Dexamethason.
Meiner Meinung nach dürfte es sich bei der oben beschriebenen eindrücklichen Symptomatologie um eine AMS (Acute Mountain Sickness) mit cerebellärer/cerebraler Mitbeteiligung im Sinne eines beginnenden HACE (High Altitude Cerebral Edema) handeln – mit einem AMS-Lake Louise Score von 15 Punkten aber notabene fehlendem Kopfschmerz und ohne Erbrechen! Oder…?
Antwort der Redaktion
Hallo Phillipp
Vielen herzlichen Dank für Deinen Bericht. Wir freuen uns immer über solche Beiträge, weil unser Journal dadurch lebendiger wird.
Deine Einschätzung war natürlich völlig korrekt: Es handelte sich mit grosser Wahrscheinlichkeit um ein HACE und Deine Therapie war daher ausgezeichnet. Cortikoide und Sauerstoffzufuhr (in diesem Fall durch die Erhöhung des O2-Partialdruckes beim Absteigen) sind die Therapie der Wahl. Wenn der Patient in dieser Situation und mit diesen Krankheitszeichen allein und ohne Hilfe gewesen wäre, dann würde er wahrscheinlich nicht mehr unter uns weilen.
Liebe Grüsse, Eckehart